Musik im Tempel und in der Synagoge

Musik im Tempel und in der Synagoge
Musik im Tempel und in der Synagoge
 
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Die heutigen Kenntnisse der jüdischen Musik - sie umfasst einen Zeitraum von dreieinhalb Jahrtausenden und ist nachhaltig beeinflusst von der zweitausendjährigen Diaspora des jüdischen Volkes - beruhen auf den biblischen, talmudischen und rabbinischen Schriften, auf archäologischen und ikonographischen Funden sowie auf der mündlichen Lehrer-Schüler-Überlieferung, wie sie teilweise heute noch praktiziert wird. Für die altisraelische Epoche, die biblische Periode und die des Zweiten Tempels, also etwa die 1. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. bis zur Zerstörung des 2. Tempels im Jahre 70 n. Chr., bilden die biblischen Schriften die Hauptquelle. Bekannt sind Namen, Anwendung, auch Bildnisse verschiedener Musikinstrumente; Text und lyrische Form alter Gesänge, gelegentlich mit Überschriften, die musikalische Hinweise enthalten, etwa auf Instrumentalbegleitung oder Namen der Melodie; Beschreibungen von Zeremonien religösen oder weltlichen Inhalts, die Aufschluss über die Musikpraxis im alten Israel geben. Archäologisch bezeugt sind Musikinstrumente wie Becken (Miziltajim/Zilzalim), Glocke (Paamon), Rasseln (Menaaneim). Weitere Schlaginstrumente wie die Rahmentrommel Tof, Saiteninstrumente wie die leierartigen Kinnor und Nebel und Blasinstrumente wie Halil (Doppelfeifeninstrument), Schofar (Widderhorn) und Hazozra (Trompete) sind teilweise durch spätere ikonographische Materialien belegt.
 
Von den biblischen Quellen der ältesten Periode, der Nomadenzeit bis zum Anfang der Königszeit im 11. Jahrhundert v. Chr., repräsentiert das »Brunnenlied« (4. Mose 21, 17-18) die Gattung der Wasserlieder, die sich bei Nomadenvölkern bis heute erhalten haben. Andere typische Formen dieser frühen Zeit sind kurze Akklamationen, die zu Aufbruch und Halt aufrufen, Feldgeschrei und Kriegs- und Triumphgesänge, die manchmal zugleich Dank- und Preisgesänge sind, wie zum Beispiel das »Lied am Schilfmeer« (2. Mose 15,1-21) und das »Deboralied« (Richter 5). Hervorzuheben ist die Mitwirkung von Frauen bei derartigen Gelegenheiten: Der mit Tuppim (Pauken, Rahmentrommeln) und Meholot (Reigen) begleitete Gesang Miriams, wie man ihn zum »Lied am Schilfmeer« findet, ist im Alten Orient gut bekannt und lässt sich bildlich durch ein zeitgenössisches ägyptisches Relief erläutern. Antiphonische Ausführung von Gesängen - ein Frauenchor alterniert mit einem Männerchor - findet sich bereits beim »Schilfmeerlied«. Auch der responsoriale Stil, der Wechsel von Solo und Chor, ein wichtiges Element des erst später ausgeprägten Synagogengesangs, wird schon in einer groß angelegten Szene am Berg Gerizim verwendet (5. Mose 27, 11-26).
 
Die seit den Anfängen der Königszeit neue Lebensweise - die Stämme sind nun fest angesiedelt -, die Entstehung eines städtischen Lebens, die Errichtung eines königlichen Hofes und hauptsächlich der Kultus im neuaufgebauten Tempel sind zweifellos wichtige Faktoren für die musikalische Entwicklung dieser Periode. Spätere biblische Zeugnisse lassen eine rege musikalische Tätigkeit am Hof und bei den wohlhabenden Klassen erkennen (die von Propheten wie Amos und Jesaja sehr beanstandet wurde) und berichten ausführlich über die Tempelmusik. Der Person Davids (»der liebliche Psalmist Israels«) wird die Begründung der Kultmusik zugeschrieben. Der musikalische Teil des Kultes, der in den Händen einiger dem Levitenstamme angehörigen Musikerfamilien lag, war eng mit dem Darbringen der Opfer verbunden. Viele der im Tempel gesungenen Liturgien sind in den biblischen Psalmen erhalten geblieben, von denen manche Gattungen - wie die Dank-, Lobpreisungs- und Bußpsalmen - mit verschiedenen Kultzeremonien übereinzustimmen scheinen. Der literarische Parallelismus, das heißt die Struktur von Vers und Gegenvers, der in den biblischen Texten vorherrscht, lässt auf eine Praxis des responsorialen Stils in der musikalischen Ausführung schließen. Derartige Formen sind in der synagogalen Tradition bis heute lebendig. In die Zeit nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil fallen die Reformen Esras, den man als Begründer der Synagoge ansieht (2. Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr.). Außer der Einführung regelmäßiger öffentlicher Thoravorlesungen wird ihm unter anderem auch das Interpunktionssystem (Piske Teamim) der Bibel zugesprochen, das die Basis der biblischen Kantillation bildet. Das Eindringen des Hellenismus seit Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. hat auch Einfluss auf das Musikleben gehabt. Dies spiegelt sich unter anderem in den griechischen Instrumentennamen wider, die das aus dieser Epoche stammende Buch Daniel erwähnt. Die Hellenisierungsbemühungen berührten wohl hauptsächlich die wohlhabenden Klassen. Jedoch aus den wiederholten talmudischen Protesten gegen Theater und Zirkuspraktiken kann man ersehen, dass es sich dabei um weitverbreitete Erscheinungen handelte.
 
Die Synagoge wird nach der Zerstörung des 2. Tempels im Jahre 70 n. Chr. zum kulturellen Zentrum der jüdischen Gemeinden. Aus der Tempelzeit in die Synagoge übernommen wurde das einzige Kultinstrument, das bis heute noch im synagogalen Gottesdienst zu Neujahr und zum Versöhnungsfest geblasen wird, das Schofar, ein Widderhorn, dessen melodische Möglichkeiten sich auf die beiden ersten Obertöne beschränken. Der Talmud gibt ein detailliertes Bild des Gottesdienstes im Jerusalemer Tempel, jedoch besitzen wir über die Liturgie der frühen Synagoge nur spärliche Kenntnisse. Die Frage ob musikalische Traditionen der Tempelmusik auf die Synagoge übergegangen sind, ist umstritten. Für diese These spricht die im Volk verankerte und von Rabbinern gelehrte Doktrin, dass alles, was mit dem Tempel in Verbindung gebracht werden konnte, als heilig zu betrachten und in Erinnerung zu halten sei. Dagegen spricht die völlig verschiedene Organisationsform der Musikpraxis in Tempel und Synagoge: einerseits die jahrhundertealte Institution der professionellen Tempelmusiker (Leviten), andererseits ein frei organisiertes, von Laien ausgeführtes Singen in der Synagoge (das Instrumentalspiel war außerhalb des Tempels an Sabbaten und Festtagen generell verboten); das Amt eines professionellen Vorsängers (Chazzan) ist erst nach dem 5. Jahrhundert n. Chr. belegt. Es ist wahrscheinlich, dass die hebräische Psalmodie schon zur Zeit des 2. Tempels in der Synagoge verankert war. Dies darf aber nicht mit der Tradition der levitischen Chöre unter Begleitung des levitischen Tempelorchesters verwechselt werden. Der Jerusalemer Tempelgesang ging offensichtlich verloren, doch die Psalmodie der frühen Synagoge überlebte anscheinend die nationale Katastrophe 70 n. Chr., die Zerstörung des Tempels durch Titus. Sie ist wie die Thora- und Prophetenlesung, ein spezifischer Sprechgesang der heiligen Schriften und repräsentiert das eigentliche musikalische Erbe der frühen Synagoge.
 
Die biblische Kantillation war im talmudischen Zeitalter bereits liturgische Pflicht, und ihre Kodifizierung scheint im Keim bestanden zu haben. Zum Unterricht benutzte man cheironomische Zeichen (Handbewegungen), und diese Methode wird durch das gesamte Mittelalter bis in die heutige Zeit hinein durch Quellen bezeugt. Die Praxis des Lerngesangs an den talmudischen Hochschulen (Jeschiwot) sowie im elementaren Unterricht der Kinder im Cheder hat sich bis heute erhalten. Dass die Gebete mit Gesang vorgetragen wurden, wird durch eine talmudische Empfehlung bestätigt. Personen mit schöner Stimme sollten als Vorbeter fungieren. Für manche Gebete findet man im Talmud auch Angaben über verschiedene Formen von responsorialer und antiphonischer Ausführung, die sich in der mündlichen Tradition bis heute erhalten haben. Die liturgische Kantillation, die aus dem Text und seiner Akzentuierung entstand, von ihm abhängt und ihn zugleich stützt, besteht melodisch in einer syllabischen Rezitation, oft auf ein und demselben Ton, und wird durch eine Kadenz gegliedert, die manchmal melismatisch sein kann. Es handelt sich hier um ein den Psalmtöten des Gregorianischen Gesangs ähnliches Verfahren. Diese archaische Form der Kantillation wurde weiter ausgebaut: Jeder Satzteil kann in kleine Teile zerlegt werden, die durch Trennungsakzente voneinander abgesetzt sind. Ein anderes Element, das man offenbar auch zur Urcharakterisitik des synagogalen Gesanges rechnen kann, ist die modale Struktur, wie man sie zum Beispiel im arabischen Maqam antrifft, das heißt eine mosaikartige Kompositionstechnik mit melodischen Motiven oder Formeln, die sich innerhalb einer gegebenen Tonleiter bewegen.
 
Die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends, das heißt die Zeit, die auf den Abschluss des Talmuds folgt, bringt drei Neuerungen mit sich, die von dauerndem Einfluss auf die Fortentwicklung des synagogalen Gesanges sein sollten: Es wurden Akzentnotierungsysteme, die Teamim, ausgearbeitet, die der Bibelkantillation grafischen Ausdruck verleihen; dann erhielt die Liturgie durch ein Aufblühen der religiösen Poesie, der Pijjutim, einen neuen Aufschwung ; schließlich zog der Chazzan in dieser Zeit als Berufsvorbeter in die Synagoge ein.
 
Die Kristallisation der rabbinischen Einstellung zur Musik, deren Ursprünge im Talmud wurzeln, findet sich in Texten des 9. bis 12. Jahrhunderts (Hajja Gaon, Isaak Alfasi, Maimonides). Zu den markanten Motiven, die zu einer Einschränkung der musikalischen Praxis geführt haben, gehört die Trauer über die Zerstörung des 2. Jerusalemer Tempels 70 n. Chr.: »Als das Sanhedrin zu bestehen aufhörte, hörte die Musik beim Trinkgelage auf. ..«, heißt es im Talmud. Dieses Trauermotiv zieht sich wie ein roter Faden von der talmudischen Epoche bis zur Moderne und führte manchmal zum vollständigen Verbot jeglicher Musikpraxis. Neben diesem historisch begründeten Trauermotiv ist die grundsätzliche Einstellung zur Musik hauptsächlich von funktionalen Aspekten abhängig, das heißt Musik wird erlaubt und befürwortet, wenn sie einem religiösen Zweck dient. Innerhalb der fundamentalen Unterscheidung zwischen erlaubter religiöser und weitgehend verbotener weltlicher Musik differenziert der Talmud innerhalb der weltlichen Musik noch einmal zwischen instrumentaler Musikpraxis - die strikter abgelehnt wird - und vokaler Musik; insbesondere wird vor der verführerischen Wirkung von Frauengesang gewarnt. Die späteren rabbinischen Quellen bestätigen diese Unterscheidung zwischen religöser und weltlicher Funktion der Musik ohne sich mit Fragen der Musiktheorie und Ästhetik auseinander zusetzen. Zu den Texten, in denen diese Doktrin treffend zum Ausdruck kommt, gehört das Responsum von Hajja Gaon: »... [verboten ist] das Singen über die Liebe eines Menschen zum Nächsten oder um seine Schönheit zu preisen, was die Araber aschar al-gazl (Liebeslieder) nennen, aber von Liedern und Preisungen, die die Güte des Allmächtigen vergegenwärtigen, lässt sich keiner abhalten. So ist der Brauch in ganz Israel. ..« Diese später oft zitierte Passage wurde schon im 11. Jahrhundert von Isaak Alfasi in sein talmudisches Kompendium aufgenommen und erhielt dadurch den Status einer Halacha, einer rabbinischen Norm. Auch Maimonides zitiert diese Doktrin in seinem Responsum über Musik, einer der wichtigsten Quellen zu diesem Thema. Die Anwendung dieses Verbotes weltlicher Musik lässt sich insbesondere im christlichen Abendland beobachten, wo die Musikentwicklung im Mittelalter eng mit der Kirche verbunden war. Man hielt demgegenüber besonders am liturgischen Sprechgesang sowie an gewissen traditionell verankerten Melodien fest, deren Ursprung sogar auf die Sinaioffenbarung des Moses zurück projiziert wurde. Nichtsdestoweniger ist die Freiheit, neue Melodien für Pijjutim im Gottesdienst einzuführen, bereits seit dem 13. Jahrhundert im aschkenasischen »Sefer chassidim« (»Buch der Frommen«) verbucht: »Suche nach Melodien, und wenn du betest, dann sing mit der Melodie, die du für angenehm und süß hältst«. Die Ablehnung »fremder« Melodien innerhalb des Gottesdienstes kulminierte bei den Aschkenasim in den Schriften sowohl der Rabbiner als auch mancher Kantoren des 16. bis 18. Jahrhunderts. Während dieser Epoche versuchten nämlich die Kantoren wenn nur möglich, neue Melodien in die Liturgie einzuführen. Es war eine äußerst produktive Periode, die die Entwicklung der Meschorerim-Praxis (eine besondere chorale Improvisationspraxis) mit sich brachte; der Vorsänger ließ sich von zwei Stimmen, einem »Singer« (ein Knabe) und einem »Bass«, begleiten.
 
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte in Deutschland mit der politischen Emanzipation der Juden eine religiöse Reformbewegung ein, die sich eng an die Gottesdienstform der protestantischen Kirche anlehnte. Die wichtigsten musikalischen Aspekte dieser Reformbewegung waren die Einführung der deutschen der Sprache und neu komponierter Choralmelodien in die Liturgie, das Ersetzen der traditionellen Thorakantillation durch einfaches Vorlesen sowie die Einführung der Orgel. Größere Verbreitung fand jedoch in ganz Europa und später in den USA die gemäßigte Reform, die von Salomon Sulzer in Wien um 1826 eingeführt wurde. Kernpunkt der hitzigen Auseinandersetzung um die Reform war die Einführung der Orgel. Dabei kamen alle Argumente der restriktiven Haltung der Rabbiner zur Musik wieder zum Tragen.
 
Prof. Dr. Israel Adler

Universal-Lexikon. 2012.

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